2025: Sonderheft: Genres der Verwissenschaftlichung
Sonderheft: Genres der Verwissenschaftlichung
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Artikel

Stephanie Gripentrog-Schedel , Anja Kirsch
Genres der Verwissenschaftlichung: Editorial und Grussworte
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Anja Kirsch , Stephanie Gripentrog-Schedel
Genres der Verwissenschaftlichung: zur Einführung

Der Beitrag führt in das AЯGOS-Sonderheft Genres der Verwissenschaftlichung ein, das sich den Verflechtungen von Religion und Wissenschaft in unterschiedlichen sozialen, politischen und institutionellen Kontexten widmet. Am Beispiel des II. Internationalen Kongresses für Allgemeine Religionsgeschichte (Basel, 1904) zeigt die Einführung, wie Akteur*innen Wissenschaftlichkeit beanspruchen, aushandeln oder bestreiten – und wie sich diese Dynamiken in spezifischen medialen, sozialen und textuellen Formaten niederschlagen. Diese Formate werden als Genres der Verwissenschaftlichung verstanden: als soziale Rahmungspraktiken, in denen Wissenschaftlichkeit performativ hervorgebracht und modelliert wird. Verwissenschaftlichung erscheint dabei nicht als linearer Fortschrittsprozess, sondern als konfliktreiche, situierte Bewegung, in der sich epistemologische, institutionelle und gesellschaftspolitische Perspektiven verschränken. Das Sonderheft fragt nach den kulturellen Bedingungen und Ausdrucksformen solcher Prozesse und nach ihrer Bedeutung für die Entstehung und Selbstverortung der Religionswissenschaft als akademischer Disziplin.

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Anja Kirsch
Zwischen Katechismus und Parteidokument: Eine Genregeschichte von Religion und Politik im frühen 19. Jahrhundert

In den 1830er und 1840er Jahren formierten sich europaweit Protestbewegungen, deren politische Forderungen eng mit der Frage nach der gerechten zukünftigen Gesellschaft verknüpft waren. Religionsgeschichtlich greifbar wurde dieser sozialutopische Diskurs in den Profildiskussionen der in dem revolutionären Klima entstehenden frühsozialistischen Bewegung/en. Ihre Programm-dokumente verhandelten sowohl die Grundlegung der zukünftigen Gesellschaft als auch das Wesen der neuen Bewegung. Gestritten wurde im Format des Katechismus. Dieser Artikel untersucht die Kommunikationskreisläufe von über 40 Katechismen und Glaubensbekenntnissen aus Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den Staaten des Deutschen Bundes sowie der Schweizerischen Eidgenossenschaft in ihrem sozial- und kulturhistorischen Kontext. Mittels polizeilicher Verhörprotokolle, Kongressmitschriften und Rundschreiben, Korrespondenzen, persönlicher Briefe und Erinnerungen von Beteiligten wird nachgezeichnet, wie die Religionsfrage ins Zentrum der frühsozialistischen Identitätsdebatte rückte. Im Zuge dieser Debatte begann sich die Verhältnisbestimmung von Christentum und Kommunismus als Verhältnisbestimmung von Religion und Politik zu konturieren, ohne dass dabei scharfe Grenzen gezogen wurden. Die Analyse zeigt auf, wie Alltagsunterscheidungen, wahrgenommene Uneindeutigkeiten des katechetischen Formats sowie ein aufkommender Genrezweifel die moderne Differenzierung von Religion und Politik präfigurierten. Anschließend an religionswissenschaftliche Forschungen zu Säkularität wird hier ein Zugang zu vorbegrifflich bleibenden Differenzierungen entwickelt, der die epistemologischen Voraussetzungen expliziter Grenzziehungspraktiken untersucht.

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David Atwood
Weder „Kriegsmaschine“ noch Apologetik: der Beginn der Religionswissenschaft in Frankreich

Der Aufsatz geht der frühen französischen Religionsforschung in ihren ersten zwei Generationen seit der Institutionalisierung nach und zeigt exemplarisch, wie sich im historisch und politisch spezifischen Kontext der Dritten Republik eine Religionsforschung bildete, die sich von der Theologie abgrenzte und ihre eigene disziplinäre Identität suchte. Dabei stehen zuerst die wissenschaftlichen Institutionen und ihre Genres (Antrittsvorlesungen, Zeitschriften, Lexika und Kongresse) im Fokus. Mit zwei Beispielen wird anschliessend der Prozess der Verwissenschaftlichung und die Veränderung der frühen französischsprachigen Religionswissen-schaft von der ersten zur zweiten Generation illustriert: Léon Marillier steht exemplarisch für die erste Generation der französischen Religionswissenschaftler, während mit Marcel Mauss die Konsolidierung von Religionswissenschaft, -geschichte und -soziologie beschrieben wird. Die frühe französischsprachige Religionswissenschaft wird somit anhand der Genese ihrer ersten Denkstile konturiert, die sich im Durchgang durch die Genres aufzeigen lassen.

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Lorenz Trein
„Unparteilichkeit ist nie die Sache religiöser Polemik gewesen“: Wissenschaftlichkeit, Religion und „Islamfrage“ im Kontext der Kolonialkongresse in Berlin 1905 und 1910

Die Aushandlung von Wissenschaftlichkeit ist keineswegs auf innerakademische Debatten und den theoretischen Höhenkamm beschränkt. Was als „wissenschaftlich“, „sachlich“ oder „unparteiisch“ gilt, erfährt eine entscheidende Zuspitzung im Kontext politischer, kultureller und religiöser Fragen zum Zeitgeschehen. Der Artikel zeichnet Umrisse und Hintergründe einer Debatte nach, die 1905 und 1910 auf den Kolonialkongressen in Berlin geführt wurde. Diese Debatte war vordergründig der Frage gewidmet, wie der Islam als kultureller Faktor einzuschätzen sei. Wichtige Schlagworte der Debatte waren u.a. „Islamgefahr“ und „Islampropaganda“. Ob der Islam eine Religion im modernen Sinne sei, galt keineswegs als ausgemacht. Die Forderung einer Trennung von Staat und Politik und der Ruf nach Religionsfreiheit als Bedingung ‚kultureller Hebung‘ blieben nicht ohne Widerspruch. Umgekehrt wurde im Islam eine Alternative zur als dekadent erachteten Zivilisation Europas gesehen. Strittig war aber auch, wie sich politische, religiöse und wissenschaftliche Interessen in der Debatte zueinander verhalten. „Unwissenschaftlichkeit“ und „Parteilichkeit“ fungierten auch hier als Kampfbegriffe, um gegnerische Argumente zu diskreditieren.

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Stephanie Gripentrog
Fälle von Religion

Der Beitrag beschäftigt sich mit der spezifischen Rolle von psychologischen Fallgeschichten für die Verwissenschaftlichung von Religion und nimmt dafür insbesondere die Tagungsgeschichte in den Blick. Nach einigen grundsätzlichen Überlegungen zur epistemologischen Relevanz der Fallgeschichte und wissenschaftlichen Kongressen als Orte spezifischer Wissensproduktion folgt die Analyse eines Ausschnitts des Fachdiskurses der entstehenden Religionspsychologie. Hierfür werden insbesondere die ersten internationalen religionspsychologischen Kongresse der Jahre 1930 und 1931 in den Blick genommen. Gegenstand der Analyse sind hier vor allem die entsprechenden Kongressakten sowie die Bedeutung von Fallgeschichten für die Begründung der Religionspsychologie als empirischer Wissenschaft. Dabei sticht die Fallgeschichte der Therese Neumann von Konnersreuth in besonderem Maße heraus: Sie war nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch von hoher Brisanz. Gegenstand des zweiten Kongresses von 1931 war vor allem die Frage nach dem „Unglauben“, mit der auf die als krisenhaft wahrgenommene religiöse Situation der Gegenwart reagiert und der ebenfalls anhand empirischer Erhebungen nachgegangen wurde. Auf beiden Kongressen zeigte sich eine Veränderung des disziplinären Selbstverständnisses: Im Interesse einer religionsapologetischen Profilierung bewegte man sich weg von früheren, als „psychologistisch“ wahrgenommenen Ansätzen.

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Adrian Hermann
Medien und Genres der Verwissenschaftlichung von Religion auf den Philippinen um 1900: eine Miszelle

Der Artikel leistet einen Beitrag zur Untersuchung von Prozessen der Verwissenschaftlichung von Religion auf den und in Bezug auf die Philippinen um 1900, insbesondere in der spanischsprachigen kolonialen Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt steht die exemplarische Vorstellung von religionswissen-schaftlich bislang wenig beachteten, überwiegend in spanischer Sprache verfassten Quellen philippinischer Intellektueller um 1900. Diese Texte, die unterschiedliche mediale Formen und Genres aufweisen, dokumentieren vielfältige Verhältnisbestimmungen insbesondere von Religion und Wissenschaft. In einer vorläufigen Darstellung wird dieser Quellenbestand für die Diskussion um eine Globale Religionsgeschichte erschlossen. Vorgestellt werden Texte von Pedro Paterno und Isabelo de los Reyes sowie zeitgenössische Zeitschriften und deren massenmediales Umfeld. Abschließend wird für die Religionswissenschaft mit Blick auf medienwissenschaftliche Diskussionszusammenhänge die Frage aufgeworfen, wie genre- und medientheoretische Ansätze als Aspekt einer Globalen Religionsgeschichte zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können.

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Stefan Ragaz
Wissenschaft, Religion und die Präpotenz der Grenze: eine essayistische Hommage an Jürgen Mohn

Dieser Beitrag stellt Wissenschaft und Religion heuristisch gegenüber. Er vertritt die These, dass sich die beiden Konstituenzien dieser Gegenüberstellung unter Rückgriff auf Jurij Lotmans kultursemio-tisches Konzept der Semiosphäre in Bezug auf ihr jeweiliges Verhältnis zur kulturellen Dynamik formal unterscheiden lassen, ohne dass sie inhaltlich definiert werden müssen. Die Religion wird dabei mit Lotmans Begriff des Zentrums assoziiert, die Wissenschaft mit der Grenze. Die Wissenschaft ist diejenige Kulturform, die – semiotisch gesprochen – mit der Veränderung von der Peripherie her rechnet, da sie sich selbst als stets revidierbar auffasst. Die Religion hingegen wird als kulturelles Modell verstanden, das nach Zentralisierung, Homogenisierung und Verstetigung strebt. Um ihre Stabilität zu gewähren, versucht die Religion sich gegen die von der Grenze her einfliessende Information zu immunisieren. Der religions- und wissenschaftstheoretische Essay ist eine Hommage an Jürgen Mohn und eine Danksagung für unsere langjährige Zusammenarbeit.

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Ulrich Vollmer
Bibliographie Jürgen Mohn
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